29. April 2022 - 31. Oktober 2022
Ursula Palla / Wolke / Cabane / Eröffnung 29. April 2022; Roland Scotti; überarbeitet:30.April 2022
Zu manchen Eröffnungsreden kommt man wie Maria zum Kind – ziemlich unverhofft und doch mit Freuden. Mit Freude – in diesem Falle – vor allem, da mich das Werk der Künstlerin Ursula Palla fast meine ganze Schweizer Zeit, das heisst seit knapp 2 Jahrzehnten begleitet – und Palla zu jenen Künstlerinnen gehört, mit denen ich schon immer einmal konzentriert beziehungswiese umfassend zusammenarbeiten wollte.
Leider ist das Kunstmuseum Appenzell programmatisch und räumlich wenig auf die Präsentation von Videokunst oder Videoobjekten ausgerichtet – so dass ich mir nie zutraute, eine gültige Werkschau für Ursula Palla einzurichten. Dafür konnte ich die Künstlerin bei zwei Gelegenheiten sowohl im Kunst- museum Appenzell wie auch in der Kunsthalle Ziegelhütte im Rahmen von Gruppenausstellungen einladen: 2018 bei der grossen regionalen Kunstschau „Heimspiel“ und 2021 bei der Ausstellungs- serie „APP’N’CELL NOW“ – und die grosse Werkschau zu Ursula Palla hat ja jetzt das Bündner Kunstmuseum Chur realisiert – endlich!
Für mich war es bei beiden Kooperationen eine besondere Erfahrung, die handwerkliche, emotionale und intellektuelle Präzision mitzuerleben, mit der die Künstlerin ihre Werke an einem vorgegebenen Ort in Szene setzt – selbst, wenn diese Arbeiten nicht genau für diesen Ort geschaffen wurden. Das, die handwerkliche und geistige Genauigkeit sind – gerade bei manchen Medienkünstler:innen wie heute eigentlich bei allen anderen auch – nicht selbstverständlich.
Umso mehr freut mich, dass Ursula Palla in der Cabane, der Ausstellungs-Hütte, die einer Klosterzelle ähnelt, eine neue Arbeit verwirklicht hat, die genau dies zeigt: Hohe intellektuelle Präzision und dichte emotionale Präsenz, gepaart mit klarer technischer Umsetzung. Mehr kann man von Kunst eigentlich kaum erwarten – weniger sollte man auf keinen Fall verlangen.
Die Arbeit, die sie gleich sehen werden (oder vielleicht schon sehen durften) heisst «WOLKE» - und allein bei dem Titel schlägt das Herz jedes Technikfans, aber vor allem jenes der Kunsthistorikerinnen oder der Träumer schneller. Was für Erwartungen, was für Assoziationen löst dieses Wort «Wolke» aus? Bei mir ziemlich viele – das reicht von Kindheitserinnerungen bis zum hybriden Menschen, jenem Wesen zwischen Fleisch und Maschine.
Nichts anderes ist Kunst – die Kombination möglichst grosser Widersprüche. Kunstwerke sind Mischwesen – die für uns ein schier unendliches Wahrnehmungsfeld öffnen, damit wir sehen, deuten, interpretieren können. Allerdings sollte die Deuterei nie beliebig, irrational werden; gute Kunstwerke verhindern diese Abschweifungen durch ihre Materialität, durch ihre Tatsächlichkeit.
Bei den Installationen und Objekten von Ursula Palla ist das immer so.
Sie öffnet mit ihrer künstlerischen Arbeit Denk- und Vorstellungsräume, die letztlich unseren mehr oder weniger gemeinsamen kulturellen Erinnerungshorizont aktivieren – und damit bin ich endlich wieder beim Himmel, an dem die Wolken natürlicherweise schweben und von uns leider nie festzuhalten sind.
Das machen andere für uns – vor allem die Künstler:innen.
Vielleicht erinnern Sie sich an die wundersame Ausstellung «Wolkenbilder – Die Erfindung des Himmels», die Beat Wismer 2005 für das Kunsthaus Aarau eingerichtet hat – oder Sie haben an Ostern an der Völkerwanderung ins Tessin teilgenommen und dort in unserer Partnerinstitution, der Fondazione Arp Locarno, die gerade laufende, ebenso wunderbare Ausstellung «Hans Arp – ‘Ich bin einer Wolke geboren’» entdeckt. Dann wissen Sie, wie bereichernd und zugleich diffus Wolken als ästhetisches Phänomen sind.
Ursula Palla / Wolke / Cabane / Eröffnung 29. April 2022; Roland Scotti; überarbeitet:30.April 2022
Das können Sie auch hier und jetzt erleben: Ursula Palla konstruiert aus den Gegebenheiten ein poetisches Momentum, das einerseits unmittelbar sinnlich, gar erhebend wirkt, und das andererseits auf Geistes-, Technik- und Naturgeschichte – eben auf Erkenntnis – verweist.
Die Fakten sind: Tonnenförmiger, längsgestreckter Raum mit Lunette an der Stirnwand; Drahtgebirge, geknüpft aus silbrigem und graumattem Aludraht: in Augenhöhe im zweiten Drittel des Raums; bewegte Lichtprojektion, die zusammen mit dem Tages- oder Abendlicht die wolkige Metallplastik, zum Glitzern bringt und wandernde Licht-Schattenbilder erzeugt, als würde die Lunette mitsamt dem dort sichtbaren Geäst über die weisse Fläche gleiten. Sie sehen: Technik, Natur und Geist, aber auch Innen und Aussen sind im Werk Pallas verwoben. Sie hat sich den Ort im besten Sinne des Wortes «zu eigen gemacht» - und wir eignen uns den von der Künstlerin vermittelten Eindruck an.
Natur ist klar – Wolkengebilde berühren sofort unsere romantischen, unsere sentimentalen, unsere manchmal auch sehr kitschigen Gefühle. Wie sollte es auch anders sein – was gibt es Schöneres als diese Himmelsschafe, selbst wenn sie ein Gewitter ankündigen.
Weit weniger romantisch, aber ebenso ungreifbar verhält es sich mit der Technik Selbstverständlich spielt auch Ursula Palla mit der digitalen Cloud – die zwar «wireless» ist, aber im Netzwerk des von ihr im Raum montierten Drahtgeflechts äusserst gegenwärtig. So, wie reale Wolken Wasser speichern und rund um den Globus transportieren, archivieren und befördern digitale Wolkengebilde Ideen und Informationen.
Beides sind für uns und die Welt notwendige Lebensmittel. Und wenn Sie jetzt den Kopf schütteln, dann stellen Sie sich vor, wie Sie heute ohne die Cloud noch ihren Weg von A nach B oder ihre Wissensfragmente, teilweise auch ihre visuellen Erinnerungen aufzeichnen oder finden könnten. Ein grosser Unterschied bleibt: Die technische Wolke kündigt keine Gewitter mehr an; sie ist das Unwetter.
Spannender für mich und hoffentlich auch für Sie ist der Geist, das Denken – man könnte auch sagen, die kulturelle Imagination. Denn das ist, was Ursula Pallas Arbeit unter Einschluss aller Merkwürdig- keit und Mehrdeutigkeit beflügelt und auslöst: Sie verwandelt das «Profane» durch ihre reduzierte, aber äusserst präzise Kombination und Platzierung in etwas «Sakrales» - etwas, das nicht nur beiläufig registriert, nicht nur niederschwellig genossen oder genutzt wird, sondern in der scheinbaren Flüchtigkeit tatsächlich als beglückender Wert, als bedeutungsvoll, als würdig wahrgenommen wird – so wie übrigens auch der Park, in dem die Cabane situiert ist.
Unsere Wolken – seien es die technischen, die natürlichen, die geistigen – sind im Anthropozän zwar sicher nicht gottgegeben, eben nicht mehr «anzuhimmeln» - man kann und sollte aber durchaus über Wertigkeiten sinnieren – ansonsten fallen wir irgendwann gemeinsam aus allen Wolken.
Roland Scotti